Griechenlands Realitätsverlust

23.02.2015

Die Situation in Griechenland überrascht keinen Ökonomen. In 90 der letzten 192 Jahren stand der hellenische Staat in Geldnot, tilgte die fälligen Schulden nicht oder bediente seine Staatsschulden nicht (Zinsausfall). Man hat sich in Athen so sehr daran gewöhnt, dass man  das harte Arbeiten vergessen hat.

Griechenlands Realitätsverlust

Griechenlands Realitätsverlust in der Schuldenkrise (Fotolia / © pixs:sell)

Lieber träumt man da wohl von einer Zeit, in der es Geld vom Himmel regnet. Womöglich noch auf die von Brüssel ohnehin schon stark subventionierten Olivenhaine. Überhaupt solle es wieder einmal nach dem Willen der Griechen gehen.

Nach dem neuen griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras sei es der erklärte Wille, einen Schuldenschnitt von 60 Prozent zu erzielen. Dabei ist es noch keine zwei Jahre (!) her, dass man Griechenland mit Erleichterungen entgegengekommen ist. Das war faktisch ein Schuldenschnitt von 100 Milliarden Euro (mehr als 10 000 Franken pro Einwohner!)  respektive 40 Prozent und jetzt sollen nochmals Geschenke gemacht werden?

Im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt hat Griechenland eine der niedrigsten Schuldendienstraten der gesamten EU. Ein erheblicher Teil der Zinsen auf den Staatsschulden kann Griechenland übrigens mit der Gewinnbeteiligung an der Europäischen Zentralbank (EZB) begleichen. Berücksichtigt man auch noch diesen Sachverhalt, sind die Forderungen ein blanker Hohn.

Nach welchem Willen soll es weitergehen?

Gleichzeitig ist die hochrentable EZB-Beteiligung der Hauptgrund, weshalb die griechische Regierung in der Eurozone verbleiben will. Aber nach welchem Willen soll es nun weitergehen?

Bei einer an Schizophrenie erkrankten Persönlichkeit kann und darf sich die medizinische Hilfe nicht am Patientenwillen orientieren. In einem Schuldverhältnis ist es sogar schlimmer. Jemand bekam Geld, konsumierte Waren, kaufte Dienstleistungen und erbat zuletzt Unterstützungsleistungen. Und dieselbe Person will nun nicht für die Rechnung aufkommen und stösst die Hilfe zur Selbsthilfe weit weg von sich.

Es sei ja okay, wenn man in Dublin, Lissabon, Madrid und selbst in Rom die Rechnungen zahlen würde, aber schliesslich sei man hier in Athen. Ich habe Mühe damit, in einer solchen Situation dem seit 192 Jahren kranken Patienten immer noch fast unbeschränkte Pflegehilfe zu bieten.

Grexit wäre ein Segen

Nur schon Geduld aufzubringen, fordert einiges. Es handelt sich beim griechischen Staat letztlich um einen Moloch, um eine korrupte Organisation, die mit kriminell gefälschten Statistiken die Brüsseler Administration jahrelang an der Nase herumgeführt hat. Nun ist hoffentlich mal Schluss.

Sogar in den angrenzenden Staaten wie Mazedonien und Albanien findet man mehr Rechtssicherheit vor. In Griechenland gibt es kein funktionierendes Grundbuchamt und keine Steuermoral. Vielmehr ist es die grosse Mehrheit von Millionären und Milliardären, die auch von der heutigen Regierung nicht zum Steuerzahlen ernsthaft aufgefordert wird. Lieber reist Letztere nach Brüssel und Frankfurt und erbittet sich einen Schuldenschnitt, der dem Land nicht wirklich weiterhilft.

Dem Austritt Griechenlands aus der Eurozone, dem sogenannten Grexit, etwas Schlechtes abzugewinnen, damit habe ich ebenfalls meine Mühe. Im Gegensatz zum Jahr 2012, als in mehreren peripheren Staaten gravierende Probleme geherrscht haben, hat sich die Lage bis auf Griechenland beruhigt, sogar deutlich verbessert. Der Grexit wäre ein Segen für die Währung, ein Signal der Stärke des Euro. Nicht der Austritt ist das grösste Risiko, sondern der Verbleib des chronisch kranken Patienten.

Gefährliches Experiment der EU

Im Kern wissen das die Griechen selbst auch. Die neue Regierung stützt sich nur gerade auf rund 36 Prozent aller Stimmen. Und diese Stimmen sind durch populistische Versprechungen (Wiedereinstellung entlassener Staatsbeamter usw.) entstanden. Nicht durch ein durchdachtes Konzept, nicht durch eine glaubwürdige Politik, nicht durch eine Motivation zur grundlegenden Erneuerung von Staat und Gesellschaft.

Es wäre ein gefährliches Experiment der EU, solchen politischen Rattenfängern zu helfen. Es riefe nur Nachahmungstäter hervor. In der globalen Rangliste der Wettbewerbsfähigkeit liegt das griechische Bildungssystem an 111. Stelle, die Staatseffizienz an 129. Stelle und die Wirksamkeit des Steuersystems an 141. Stelle.

Die griechische Regierung, die in erster Linie den bösen Feind im ausländischen Gläubiger sieht und ihr Heil im Brechen sämtlicher Grundsätze und Vereinbarungen sucht, ist in ihrer Wahrnehmungsstörung kaum mehr zu überbieten.

Schuldenerlass darf nicht Reformmüdigkeit belohnen

Reformmüdigkeit in Europa darf nicht durch einen weiteren Schuldenerlass belohnt werden. Als Aussenstehende können wir in der Schweiz um Deutschlands Rolle als Stabilitäts- und Reformwächter in der EU dankbar sein.

Gross wäre die Gefahr, mit einer Politik des Verhätschelns Griechenland die falschen Signale zu senden. Derweil benachbarte Staaten wie Bulgarien und Mazedonien sich von viel weiter unten emporarbeiten müssen: übrigens ohne mit einem Entgegenkommen rechnen zu können, das die neue griechische Regierung für sich so selbstverständlich in Anspruch nimmt.

von Maurice Pedergnana
Maurice Pedergnana (49) ist Professor für Banking und Finance an der Hochschule Luzern – Wirtschaft und Studienleiter am Institut für Finanzdienstleistungen Zug (IFZ)

Der Beitrag ist in der Neue Luzerner Zeitung erschienen.